Radikal emotional

Gestern war ich im Repetitorium für das ICD-10 Kapitel F1. Es geht um stoffgebundene Süchte, Alkohol, Drogen und all sowas. Eine Teilnehmerin fragte, ob es bewährte Mittel zur frühen Prävention gibt. Im Raume stand, dass jemand die Behauptung aufgestellt hat, dass Kindern, denen Angst vor Konsequenzen gemacht wird, weniger suchtanfällig wären. Auch wurde die These aufgestellt, dass Aufklärung über die Gefahren ein wichtiger Beitrag zur Suchtprävention wären.

Abends in der Transaktionsanalyse konnten wir die Tagesereignisse natürlich auch nicht ganz ausblenden. Auch dort bewegte alle Teilnehmenden die Frage, ob und wie wir denn einen weiteren Zerfall der Gesellschaft verhindern könnten.

Nun komme ich mit meiner steilen These. Denn ich habe natürlich gestern auch einen Artikel über dieses Thema angefangen. Bin aber im Entwurfsstadium hängen geblieben. Die Szene war wieder zu konkret auf meine eigene Situation beschrieben.

Nun versuche ich es nochmal mit neuem Impuls. Denn nach meiner Überzeugung gibt es nur einen einzigen Weg. Und dieser Weg heißt: radikal emotional. Radikal, das heißt von der Wurzel her, von Grund auf, vollständig. Emotional heißt, das Gefühlsleben betreffend, das Gegenteil von kognitiv.

Jetzt habe ich schon die Hälfte der Leser verloren … ich mache aber weiter. Wir haben am letzten Sonntag gesehen, dass alle Demonstrationen das Kippen der Gesellschaft nicht aufhalten. Ja, ich gebe zu, die Erkenntnis ist bitter. Aber warum sollten wir davor die Augen verschließen? Und ja, die Marc-Uwes und Christian Ehrings und wie sie alle heißen, schaue ich mir auch gerne an. Oder Berichte vom Zentrum für politische Schönheit. Gelegentlich. Aber: wir können nicht nicht an einen blauen Elefanten denken. Das heißt: wenn wir uns als Gegenbewegung verstehen, dann befassen wir uns genau mit dem Gedankengut der Hasser und Hetzer. Und damit verändern wir unser Hirn – in einer negativen Art und Weise. Wir werden weniger emotional. Wir werden härter. Es geht so weit, dass es immer mehr Gewalt gegen Nazis gibt. Genau das gibt ihnen Bestätigung und Energie. Die Gesellschaft kippt weiter … und weiter … unaufhaltsam, der Kipppunkt ist möglicherweise bereits überschritten, sagen führende Soziologen.

Wir haben eine großartige Gesellschaft mit nie da gewesenen Freiheiten. Wir haben die Wahl zwischen Wanderung im Harz und Kreuzfahrt in der Karibik. Wir können an unser Auto schreiben „Scholz ist doof“. Wir können jedwedes mögliche Geschlecht annehmen. Wir können mit einem Porsche über die Straßen ballern oder mit einem Elektro SUV. Wir können den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin entsorgen, den Job wechseln, den Wohnort wechseln wie es uns beliebt. Wir können jedwede sexuelle und nichtsexuelle Beziehungskonstellation in beliebiger Geschlechterkombination und Anzahl eingehen. Wir können essen was wir wollen. Wie verrückt das ist? Ihr glaubt es nicht! Die Frage ist aber: können wir damit umgehen? Ich behaupte: nein! – Wir müssen das lernen. Wir werden das kaum per Schulbuch lernen. Denn dieses Lernen ist viel komplexer und für jeden Menschen individueller, als dies jemals zwischen zwei Schulbuchdeckel gedruckt werden könnte. Und viel spannender. Und viel bereichernder. Was derzeit passiert: die Emotionen sind unkultiviert – sie spielen verrückt. Es wird uns Angst gemacht vor Migration – vor allem dies! Und vor der Wirtschaft. Und vor dem Klima. Und vor dem Mitmenschen. Dadurch entgleist unser Gefühlsleben. Es spielt verrückt. Diktatoren und Populisten wissen das. Sie nutzen das für ihre Zwecke. Per Tiktok. Über alle verfügbaren Kanäle, aber besonders gerne über das Händi. Warum das mit dem Händi so gut funktioniert? Es ist sehr einfach, dass die Menschen das Händi als ihr zweites Ich betrachten. Es ist ein faszinierendes technisches Gerät mit nicht zu durchschauenden Funktionen. Es erweitert unsere Fähigkeiten um neue Dimensionen. Zum Beispiel für Gedankenübertragung. Binnen no time kann ich mit allen meinen Facebook Freunden kommunizieren. Ich kann in meinen Insta Account, wenn ich denn einen habe, irgend etwas rein schreiben und andere Menschen lesen das und liken das. Je mehr Menschen lesen und liken, desto mehr Dopamin schüttet mein Hirn aus. Ich fühle mich gut, ich fühle mich bestätigt, ich fühle mich mit dem Gerät verbunden – es wirkt genau so wie eine Sucht. … Viele Menschen sagen: ohne mein Händi kann ich nicht leben. Woher ich das weiß? Ich bin auf einigen Datingplattformen unterwegs. Dort schreiben die Menschen genau dies. Und landen möglicherweise genau deswegen dort. Und nein, ich kann sehr gut ohne mein Händi leben. Nun … dieses Gerät, mit dem sich die Menschen so eng verbunden fühlen, das kann ja nicht die Unwahrheit sagen. Außerdem kann es wunderbar bewegte Bilder, Ton und Text übermitteln. Ein unentwegter Strom von Unfug landet so in unseren Köpfen. Egal, von welcher Seite der Unfug kommt, ob von den Befürwortern oder den Gegnern – er landet in unseren Köpfen. Und veranstaltet dort wieder jede Menge Unfug. Es ist fast nicht möglich sich dagegen zu stemmen.

Ich mache jetzt den Bogen einmal zur Eingangsfrage. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Suchtgefährdung und Anfälligkeit für kuriose Ideen und Ängste? Ja. Gibt es. In der Psychologie spricht man vom Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Das dürft ihr gerne g00geln und es lohnt sich dies auch anzuschauen. Auf beide Faktoren, also sowohl die Vulnerabilität, als auch den Stress haben wir einen Einfluss. Mehr noch: Wir haben einen erheblichen Einfluss. Ob wird das Händi ein- oder ausschalten, ob wir den Fernseher ein- oder ausschalten, welches Programm wir wählen usw. das ist ja alles nicht beliebig: wir haben das förmlich in der Hand. Ob wir mit dem Lebenspartner unsere Empathiefähigkeit trainieren oder ihm aus dem Weg gehen … es steht uns in jedem Moment frei. Bei der Vulnerabilität ist das etwas komplizierter. Ein großer Teil der Vulnerabilität wird uns in die Wiege gelegt. Ja, die Wissenschaft geht sogar von genetischen Faktoren aus. Aber das ist nicht alles. Wir müssen den Bogen noch etwas weiter schlagen, denn Vulnerabilität ist schwer wissenschaftlich messbar. Es gibt aber Hinweise. So gibt es eine Studie über Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen. Es wurden verschiedene Faktoren einbezogen. Der einzige eindeutig signifikante positive Einflussfaktor war ein autoritativer Erziehungsstil. Kinder und Jugendliche, die einen autoritativen Erziehungsstil genossen haben, hatten ein signifikant geringeres Risiko für Suizidalität, waren also psychisch stabiler, hatten eine geringere Vulnerabilität. Und ja, hier in diesem Zusammenhang ist es durchaus zulässig die psychische Stabilität auf andere Bereiche zu übertragen.

Der Vollständigkeit halber: In der Studie werden auch Risikofaktoren für erhöhte Suizidalität genannt:

Dazu zählen das weibliche Geschlecht, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Rauchen, Rauschtrinken, Migrationshintergrund und Trennung der Eltern.

Ich gehe aber noch einen Schritt weiter. Offenbar entstehen in den Hirnen von Kindern, die Wertschätzung und Aufmerksamkeit durch beide Eltern gemeinsam und das Umfeld erfahren Synapsenvernetzungen und Strukturen, die sie zuversichtlicher und lebensfähiger machen. Wenn ihr mich fragt: genau solche Menschen werden in der Zukunft gebraucht. Und zwar viele davon.

Mit dem autoritativen Erziehungsstil bin ich auch nur teilweise einverstanden, muss das aber erst einmal so hinnehmen. Denn auch dies kann missverstanden werden. Es kann so verstanden werden, dass möglichst viele Verbote den Kindern helfen – was nach meiner Erfahrung und Überzeugung definitiv nicht der Fall ist. Die Wikipedia schreibt, dass im autoritativen Erziehungsstil „ein hohes Maß an Autorität“ ausgeübt wird. Dies würde ich sehr gerne weiter untersucht wissen. Ich bin der Überzeugung, dass vor allem das Entengen und das Vorbild der Elternenten dafür sorgt, dass die Kinder auch Vernunft und Verantwortung lernen. Ich habe einen gewissen Horror vor diesen Autoritätseltern. Das kann ja so weit gehen, dass man den Thesen des Verbrechers Winterhoff folgt, der nachgewiesen jahrelang mindestens 900 Kinder mit harten Neuroleptika sediert hat. In der Presse wird derzeit gerne von 30 Kindern geschrieben. Das ist falsch! Es sind nur diejenigen Fälle, die vor Gericht verhandelt werden. Seine Bücher werden immer noch ohne Warnhinweis verkauft … Es würde aber auch bedingen, dass sich die Eltern vorbildhaft verhalten. Wie wollen Eltern, die selbst süchtig sind nach Händi, Nikotin, Alkohol, Drogen, Medikamenten, Arbeit, Glückspiel … ihren Kindern glaubhaft machen, dass Sucht keine Bewältigungsstrategie ist? Das ist schlicht unmöglich, da sie sich dadurch selbst unglaubwürdig machen. Und das ist dasjenige was ich meine. Wenn wir eine andere Gesellschaft haben wollen, dann müssen wir sie eben machen. Auch als Eltern. Und unsere Verantwortung wahrnehmen – auch wenn es lästig erscheint. Meine Erfahrung: es ist überhaupt nicht lästig. Es ist erfüllend und bereichernd – auch als Alleinerziehender. In jedem Moment. Wenn ich mir aber etwas wünschen dürfte, so wäre es dann doch die ganze Familie. Selbst, wenn ich diesen Wunsch unerfüllt ins Grab mitnehme. Es bleibt dies ein radikal emotionaler Wunsch, den ich als solchen akzeptiere.

Dies mal als ein Manuskript.

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