Gestern hatten wir wieder Lerngruppe. Das ist ein ziemlich wichtiger Termin für mich. Es ist zwar tragisch, aber es ist einer der ganz wenigen Anlässe, an dem ich mit erwachsenen Menschen spreche. Seit etwa vier Jahren kommt ja auch die Bäckereifachverkäuferin nicht mehr. Ich versuche zwar im Einkaufsladen mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Darauf gibt es aber eher spärliche Resonanz.
Also … Lerngruppe. Sie sind alle cool. Wir haben ein gemeinsames Thema. Und wir lernen was. Ich lerne öfters neue Wörter. Gestern war es auch lustig, da mir nicht so wirklich klar war, was soziokulturell bedeutet. Zum zweiten Mal habe ich eine Frage falsch beantwortet. Ich habe das so erklärt, dass mir soziokulturell ziemlich egal ist – was nur teilweise stimmt. Aber was für Körperbilder andere Menschen entwickeln, wenn sie sich im Tiktok oder Insta oder dem ganzen Quark bewegen, ist mir wirklich komplett egal.
Ein weiterer Begriff ist Alexithymie. Der ist schon interessanter. Dafür gibt es übrigens auch einen Test. Vermutlich gibt es dafür noch mehrere Teste. Die gute Nachricht: das Phänomen ist gut behandelbar. Die schlechte Nachricht: das Phänomen ist gut verbreitet. Laut Wikipedia liegt die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung bei „etwa 10%“. Interessant: „wobei Männer etwas häufiger betroffen sind als Frauen“. 10% … muss ich mir mal auf der Zunge zergehen lassen. Wobei da sicher die Frage ist, wo man Latte hinlegt. Meiner Beobachtung nach muss die Prävalenz deutlich höher liegen. Nach der Wahlprognose ist es etwa 50% aller Wählerinnen und Wähler egal, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken oder auf anderem Wege unmenschlich behandelt werden. Nach meiner Ansicht gehört schon eine gute Portion Alexithymie dazu, um Menschen ertrinken zu lassen oder überhaupt andere Wesen leiden zu lassen.
Weiterhin interessant: „Alexithymie wird gegenwärtig nicht als eigenständige Störung klassifiziert und ist dementsprechend in den aktuellen medizinischen Klassifikationssystemen ICD-10, ICD-11 und DSM-5 nicht verzeichnet.“ (Wikipedia)
Weiterhin … es beginnt … dreieinhalb Jahre nach der Aufdeckung des Skandals um den gehypten Bestsellerpsychiater und Talkshowstar durch den WDR der Prozess gegen Winterhoff. Man muss sich das mal in den Tee tun: dreieinhalb Jahre! Gehypt. Auf das goldene Podest empor gehoben. Ich habe damals für Jana gespendet. Neulich schrieb ich mal in einem Artikel über die Manipulation von Gehirnen – ich habe den Beitrag erst mal zu Überarbeitung nochmal offline genommen. Und da stellt sich einmal mehr die Frage: wenn einer 100.000e von Büchern verkauft, regelmäßig von Jauch, Lanz, Meischberger, Will & Co. in Talksendungen herumgereicht wird und mit abenteuerlichen und unwissenschaftlichen Thesen um sich wirft, ob da nicht auch eine gesellschaftliche Persönlichkeitsveränderung stattfindet? Hin zur Empathielosigkeit, zur absoluten Gleichgültigkeit gegenüber seinem Mitmenschen? Wenn ihr ein dickes Fell habt, dann verfolgt den Prozess. Ich verrate euch jetzt schon: er wird straffrei raus gehen. Neu ist eine dreiteilige Serie des WDR über das System Winterhoff. Wenn ihr ein dickes Fell habt, schaut es euch an. Nicht alles, was in einem Moment beklatscht wird, ist auch wirklich gut. Nicht einmal, wenn es von vielen beklatscht wird. 3.000 Patientenakten wurden begutachtet. 900 Kinder wurden mit Pipamperon sediert. 35 Fälle werden nun gerichtlich behandelt. Und dies nur von einem einzigen kranken Mann und seinen willigen Helfern und Helfershelfern. Versteht das Phänomen! Es ist eins zu eins das gleiche Phänomen wie 1934: keiner hat was gewusst. Alle haben nur ihre „Pflicht“ getan. Und sagt nicht, dass so etwas heute nicht mehr vorkommt! Es kommt vor. Öfter als ihr denkt. Wenn ihr die aktuelle Serie des WDR anschaut … achtet mal darauf, weshalb die Eltern mit ihren Kindern bei W. vorstellig wurden. Ich schreibe das aus persönlicher Betroffenheit. Ihr wisst schon … die Sache mit dem Hut und der Schlange, den Affenbrotbäumen und so.