Archiv für den Tag: 4. Oktober 2020

Von Wismar nach Kiel.

Ich schreibe heute ein wenig von einem Segelausflug und von einem Plan. Die wow ist zur Offshore Youngsters mit Start in Kiel gemeldet. Es sind noch Plätze für die Überführung frei. Ich frage Anne-Christin. Sie gibt grünes Licht. Ich melde mich. Und freue mich drauf. Die Wetteraussichten sind gut. Und es ist mal eine etwas längere Fahrt auf der Ostsee. Voraussichtlich sind wir zu viert. Ich kenne alle Mitsegler. Und freue mich drauf. Das war Montag. Am Donnerstag um 16 Uhr ist ablegen. Also noch drei Tage… In der Firma ist einiges zu tun. Am Mittwoch nochmal nach Grevesmühle fahren. Es kommt noch eine kurzfristige Buchung für die Ferienwohnung rein. Der Donnerstag ist dann schneller da als gedacht. Noch ein paar Sachen abwickeln und organisieren. Kindermittagessen machen. Ouuu Mist – ich hab ja einen Kuchen versprochen. Also schnell noch einen Kuchen backen. Nochmal die Kinder instruieren. Ich muss knapp packen, schließlich muss ich meinen Kram dann wieder von Kiel mit dem Zug zurück transportieren. Außerdem ist Platz an Bord immer knapp. Die Kamera bleibt hier. Um kurz vor drei kurze Verabschiedung von den Kindern, dann geht es los.

Sven ist schon an Bord. Es ist schönes Spätsommerwetter. Er hat schon alles (!) gerichtet. Die Lifelines verlegt, die Genua und den Spi angeschlagen, die Route auf dem Kartenplotter eingetragen und alles an seinen Platz gebracht.

Um kurz nach vier sind alle an Bord, wir lösen die Leinen, bestaunen im Vorbeifahren noch die Fortuna und setzen bald die Segel, machen die Maschine aus – und segeln. Es wird ein wunderschöner Abschied aus der Wismarer Bucht. Da ist das Wasser noch ganz eben, wir haben achterlichen Wind und überlegen, ob wir denn um 22.30 Uhr in Heiligenhafen sein werden oder früher. Oder später. Der Spi zieht uns ordentlich aus der Bucht.

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Bald wird das Wasser rauher. Der Wind hat dann doch ein paar hundert Kilometer Platz, um eine etwas unangenehme kurze Welle aufzubauen. Ich bin dankbar, dass ich das Steuer bekomme. Das ist dann immer noch der angenehmste Platz. Zum Sonnenuntergang wird der Spi gegen die Genua gewechselt. Jeder weiß, wo er hinpacken muss. Alles unspektakulär. Wir fahren sechs bis sieben Knoten. Ideales Segelwetter. Ich lerne die Vorteile der elektronischen Navigation kennen. Früher sind wir nach Kompass gesegelt. Irgendwohin. Und waren dann froh, dass wir auch dort angekommen sind, wo wir hin wollten. Heute können wir in jedem Moment sehen, an welcher Stelle wir sind. Wir sehen wie weit es zum nächsten Wegpunkt ist, wann wir voraussichtlich dort sein werden. Wir sehen jede Untiefe und können uns jedes Seezeichen anschauen. Wir sehen, ob wir uns in der Mitte des Fahrwassers befinden oder am Rand. Man sieht – dank Satellitenuntersützung – den Weg über Grund, da ist jede Abdrift durch Strömung und Wind schon drin. Wir sehen, ob andere Schiffe auf Kollisionskurs sind, wir können deren Namen erfahren usw. Der Steuermann ist eigentlich überflüssig. Er spart nur Bordstrom. So segeln wir durch die Nacht. Meile für Meile. Es gibt Schupfnudeln mit Parmesan. Ich verzichte. Leider. Irgendwann kommt wieder Land in Sicht. Jule sagt: diese Lichter da vorne, das sind drei Hoteltürme, da fahren wir Backbord dran vorbei. Ich kann die Lichter nur erahnen. Genau – so geht es mir auf dem Bodensee. Da sage ich auch: wer sieht den Kirchturm von Sipplingen. Revierkenntnis nennt man das. Für mich ist das alles hier Neuland. Oder Neuwasser. Wie mans nimmt. Der Wind bleibt, die Welle auch, bis in den Fehmarnsund. „Dort müsste eine Tonne sein“ – es sind noch etwa zwei Meilen bis zur Brückendurchfahrt. Die Tonnen sind nicht beleuchtet. Man sollte nicht dagegen fahren. Es ist praktisch sie rechtzeitig zu sehen. Es ist praktisch einen Scheinwerfer oder eine starke Taschenlampe an Bord zu haben. Hagen und Sven sind meine Lotsen. Und natürlich der Kartenplotter. Und die Revierkenntnis der Mitsegler. Alles sehr komfortabel, alles sehr sicher. Die Brücke selbst ist ein Monstrum. Ein LKW am anderen fährt drüber. Offenbar ist gerade eine Fähre entladen worden. Die Brücke ist zwar recht breit, das Fahrwasser dagegen recht schmal. Und dann der Augenblick, wenn man unter der Brücke durch fährt. Uuuuh … passt das auch wirklich? Ich ducke mich unwillkürlich, obwohl die Brücke doch 20 m über uns hängt … um dann geräuschlos darunter durch zu segeln. Dahinter wird das Fahrwasser wieder breiter, bevor wir dann in die Einfahrt nach Heiligenhafen kommen. Auch diese Einfahrt ist für mich sehr abenteuerlich. Habe ich eh wenig Erfahrung in Nachtansteuerungen. Dazu noch in unbekannten Gewässern, in unbekannte Häfen. Hagen macht den Lotsen. Ich muss nur steuern. Ab und zu ein Blick aufs Lot. Ab und zu ein Blick auf die Bordnavigation. Erstmals steure ich auf Richtfeuer. Segel bergen im ersten Becken, dann geht es unter Motor bis zum Steg 8 – knapp vor dem Toilettenhäuschen. Hagen fährt in die Box. Wir machen schnell klar Schiff und lassen den Tag ausklingen. So muss segeln sein. Die wow ist kein Wohnschiff. Selbst zu viert muss man sich an Bord arrangieren. Ich muss mein Bordgepäck künftig noch mehr reduzieren und noch besser sortieren.

Morgens – es schlafen noch alle, mache ich einen Landausflug. Das gehört für mich immer so ein bisschen dazu. Wenn ich in einen fremden Hafen komme, dann will ich auch sehen, wo ich da gelandet bin. Normalerweise zum Brötchen holen. Da Hagen aber frisch gebackenes Sauerteigbrot mitgebracht hat, bleiben die Brötchen beim Bäcker. Heiligenhafen ist eins: schick. Eine Boutique reit sich an die andere. Ferienwohnungen werden in schmucken Altstadthäuschen angepriesen. Ganze 9122 Einwohner zählt das von der CDU dominierte Städtchen (wikipedia). Es dürfte also mehr Kojen im Hafen als Einwohner zählen – ein etwas kurioses Verhältnis. Am Ostende der Marina gibt es eine Segelschule für die ganze Familie. Dort wird noch ein Optilehrer für die Saison 2020 gesucht. Eine Ente aus Offenbach fährt an mir vorbei. Wir waren doch auf der Suche nach tollen Autosounds…

Es gibt dann lecker Frühstück mit Fleischsalat und anderen Bordleckereien. So um 10.30 Uhr sind wir auf dem Wasser. Die Skipper fragen sich, ob wir durch das Schießgebiet des Truppenübrungsplatz Putlos fahren können oder nicht. Die Bewachungsschiffe liegen im Hafen. Schließlich entscheiden sie sich, dass wir durch fahren. Ich staune, was ich alles nicht weiß. Das Schießgebiet ist eine 486 qkm große Fläche, die zeitweise für Schießübungen gesperrt ist. Dann muss man da drumrum fahren. Zunächst noch unter Groß und Fock, wechseln wir auf vorlichem Kurs auf den kleinen Spi. Auch da: ich staune. Ich kenne das Tuch noch nicht. Das Kommando heißt: „Spibaum hoch“. Dann: „höher“. Der Spibaum hängt dann ungefähr drei Meter über Deck. Sieht kurios aus. Dann wird der Spi hoch gezogen. Und siehe da … eine betagte alte Blase schwebt hoch über dem Schiff und beschleunigt uns von ca. 6,5 Knoten auf etwa 8 Knoten.

Bild von iOS (1)

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Bilder: wow Crew.

Ein weiteres, jedoch sehr viel moderneres Segelboot mit kohlefaserverstärkten Segeln folgt uns, hat jedoch Mühe uns Näher zu kommen. Das passiert dann erst, als wir uns entscheiden zu halsen. Das muss man sich so vorstellen: eine große Wasserfläche, eine Fläche, so weit das Auge reicht. Dann verständigen sich die Schiffsführer per Handzeichen über ihre Manöver, um keine Kollision zu verursachen. Die Welle wird höher und vor allem etwas unangenehm zu steuern. Wenn uns eine Welle anschiebt, zeigt das Log auch mal 9 Knoten, kurz werden auch 10 Knoten gesehen. Wenn es die Welle hoch geht, sinkt die Geschwindigkeit auf teilweise unter 6 Knoten. Der Strom hilft uns mit mehr als einem Knoten. In die andere Richtung ist niemand unterwegs. Es gibt lecker Bordmittagessen. Schupfnudeln mit Parmesan. Dabei durchpflügt die wow mühelos die Ostsee, die Wellen rauschen und sprudeln um uns herum und wir nähern uns unserem heutigen Ziel. Vor Kiel sichtet Jule einen Surfer. Huiiii, das fetzt. Wind ist in Böen bis 29 Knoten. Wir sitzen dabei entspannt auf dem Deck, wechseln uns am Steuer ab und freuen uns, dass die Sonne nicht allzusehr scheint und wir auch noch Mühe hätten uns keinen Sonnenbrand zuzuziehen. Die Regattaleitung berät noch, wie sie auf die Wetterprognosen reagieren soll. „… Der aktuelle Wetterbericht sagt nun für Samstag, den 03.10 im Mittel 29 Knoten und in Böen 40 Knoten an. Sollte der Wetterbericht so bleiben, werden wir am Samstagmorgen nicht starten, da wir als Veranstalter dieser Juniorenregatta das Wohl von Mensch und Schiffen nicht gefährden wollen….“. Überhaupt sind hier alle sehr Mobiltelefonaffin. Im Bruchteil einer Sekunde hat einer ein Mobiltelefon zur Hand, um Wetterprognosen abzurufen oder Infos mit anderen zu teilen oder neue Infos der Regattaleitung der Offshore Youngsters zu erhalten. „Wir sind gespottet worden.“ Seit einiger Zeit fährt ein weißes Schiff parallel zu unserem Kurs. Es ist die Wiking VIII vom Akademischen Segelverein Lübeck. Man kennt sich. Sven spottet zurück. Auch das Video vom Surfer ist kurze Zeit später im Slack Channel des ASW zu sehen.

Die Ostsee ist eine Pfütze – so wird mir das unterwegs erst klar. Ich schaue immer wieder aufs Lot. Es zeigt mal sechs Meter Wassertiefe, mal acht Meter und ganz kurz auch mal zehn Meter. Land ist nicht in Sicht. Die gesamte Fläche der Ostsee (412500 qkm) mit einer durchschnittlichen Tiefe von 55 m auf eine Pfütze von 1 qm geschrumpft, wäre die Tiefe gerade mal knapp 0,1 mm, also eine sehr flache Pfütze. Zum Vergleich: die mittlere Tiefe des Atlantischen Ozeans beträgt 3.646 Meter, die des Bodensees 90 m.

In der Kieler Bucht ist erwartungsgemäß etwas mehr Schiffsverkehr. Ein schwarzes Segelboot kreuzt unsere Wege. Es ist die Störtebeker. Eigner ist der Hamburgische Verein Seefahrt. Von weitem und von nahem sieht alles sehr (!) nach Hightech aus. Wie Svens Mobiltelefon nach kurzer Recherche zum Vorschein bringt, sind die Hamburger erst seit sechs Tagen mit dem Schiff zugang. Es ist eine Carkeek 47. So sehen potentielle Matchwinner aus. Ich will noch mehr zum Besten geben. Die wow ist das potentiell langsamste gemeldete Schiff. Die Regatta wird mit Känguruhstart gestartet. Das heißt, dass das langsamste Schiff zuerst startet. Gemäß der erwarteten Segelzeit starten die schnellsten Schiffe zuletzt, sodass nach der Reihenfolge des Zieleinlaufs gewertet werden kann. Das hieße aber, dass die wow etwa um 5.30 Uhr auf die Bahn gehen könnte, das schnellste Schiff etwa um 11.30 Uhr. Das schnellste Schiff würde also theoretisch die 80 Seemeilen sechs Stunden schneller absegeln als die wow. Da kommt bei der wow Crew natürlich schon etwas Sehnsucht nach einem schnelleren Schiff auf. Andererseits ist auch ein gewisser Stolz und Ehrgeiz mit an Bord, mit so einem alten Schiff gegen modernen Plastikkram anzutreten. Hagen meldet lapidar von seinem Mobiltelefon, dass der Herr Trump (er sagt „Tramp“) an Corona erkrankt sei.

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Leuchtturm Kiel. Im Hintergrund warten Frachter auf die Schleusung in den Nord-Ostsee-Kanal.

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Blick zurück.

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Blick nach oben.

In der Kieler Bucht wird die Welle weniger. Auch der Wind flaut etwas ab. Wir bergen den Spi und segeln mit der Arbeitsgenua weiter. Während wir die berühmten Kieler Werften für zivile und nicht zivile Seefahrt und andere Sehenswürdigkeiten passieren, mache ich mich landfein und packe meinen Zampendüdel. Wir fahren auch noch vorbei an zwei Kreuzfahrtschiffen, die da vertäut im Lübecker Stadthafen liegen. Und da haben die Leute viel Geld bezahlt, dass sie ein paar Tage in so einem Knast verbringen dürfen. Die Crew ist so lieb und bringt mich zum Bahnhof. Ich möchte fast ein paar Tränen in die Kieler Bucht vergießen. Noch bevor ich mich umschauen kann, hat Jule die Festmacher bereit gemacht. Sven fährt ein tadelloses Anlegemanöver, ich klettere von Bord und schon ist die wow wieder auf dem Weg nach Strande. Letztes winken.

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Das Land hat mich wieder. Und das dann gleich richtig. Es sind nur ein paar Schritte bis zum Bahnhof. Dort heißt es: Mundnasenschutz anlegen, Fahrkarte kaufen und in diese unpersönliche Atmosphäre des öffentlichen Personenverkehrs einsteigen, die geprägt ist naja … von diesen Reisenden, wie sie im Kleinen Prinzen beschrieben werden. Die unglücklich oder getrieben von einem Ort zum anderen transportiert werden wollen – möglichst schnell, möglichst wenig von ihrer Umwelt wahrnehmen wollen. Und ich bin einer davon. Es wird fast konsequent Mundnasenschutz getragen. Lediglich einzelne ganz speziellen Superspreader sind auch unterwegs, die sich ganz cool finden und den Mundnasenschutz eben nur so ein bisschen zu tragen. Zum Glück sind die Züge nicht allzu voll. Zweimal muss ich umsteigen, jeweils habe ich so 20 Minuten Wartezeit. In Lübeck leiste ich mir eine Apfelschorle. Für zwei neunundneunzig. Materialpreis etwa 20 Cent. Hm. Dreieinhalb Stunden bin ich unterwegs. Dann noch 1 km zu Fuß bis zum Parkplatz. Ich bin ziemlich kaputt und sehr froh, dass ich schon um 21 Uhr hier bin und nicht erst um 1 Uhr nachts – das wäre die letzte sinnvolle Verbindung gewesen. Da Liebschers als Umzugshelfer ins Erzgebirge gefahren sind, bin ich ganz alleine hier. Auch schön.

Und der Rückblick? Schwer zu sagen. Faszination segeln einerseits. Die unendliche Freiheit und die unendliche Weite des Wassers. Das Erleben von Wind, Gischt, Segel, Mannschaft, Bordleben, ablegen und ankommen. Ruhe, Geduld, Meditation. Den Elementen ausgeliefert sein. Natur pur. Andererseits bin ich jetzt der Oldie an Bord. Nicht mehr ganz so beweglich wie noch vor zwanzig Jahren. Alle anderen können alles andere besser und schneller. Wissen besser Bescheid. Kennen Revier und Boot besser. Alle Abläufe an Bord. Ich bin häufig nur der Gast, der Neuling. Keine Erfahrung im Hochseesegeln, Umgang mit Wellen und Lifebelt. Die Erkenntnis: ich werde wohl kein erfahrener Hochseesegler mehr. Ich bräuchte mindestens einen Satz guter Klamotten, ordentliche Seglerstiefel und all sowas.

Segeln. Hier im Haus wird der Bau eines Optis ins Auge gefasst. Ich recherchiere. Der Plan würde 69 Euro kosten. Baukosten werden mit 500 Euro angegeben, was ich allerdings passenderweise als etwas optimistisch einschätze. Schließlich brauchen wir noch einen Mast, Segel, Auftriebskörper, Beschläge, einen Bootswagen und dies und das. Dennoch irgendwie wollen wir uns damit den Winter vertreiben. Naja … habe ich schon wieder was zu tun. Ich werde als nächstes mal eine Materialliste zusammenstellen. Ich will auf jeden Fall nicht zu schwer bauen. In den einschlägigen Foren heißt es, dass ein Holzopti auf der Regattabahn nicht konkurrenzfähig ist. Ich bezweifle das mal. Ich habe an Bord der wow von unserem Plan erzählt. Auch, dass die segelnde Pressesprecherin der Hansestadt Wismar auch schon in den Plan eingeweiht ist und es somit quasi kein Zurück mehr gibt. Sven meinte gleich, dass der Opti ja dann nächstes Jahr gleich beim Opti Panikrace unter der Flagge des asw fahren könnte. Optimisten 🙂